Vom staatlich organisierten Mord zur »Schere im Kopf«. Mit Armin Trus und Rainer Kah.
Schon Platon hat in seiner »Politeia« ein Idealbild entworfen, demzufolge nur »der Trefflichste der Trefflichsten beiwohnen« möge und »verstümmelt Geborene« von »dazu bestellten Obrigkeiten«, »wie es sich ziemt, in einem unzugänglichen und unbekannten Ort« verborgen werden sollten. Ähnlich sahen es die frühneuzeitlichen Utopisten Thomas Morus und Tommaso Campanella oder im 19. Jahrhundert Sir Francis Galton, der Begründer der Eugenik. Dabei wurde die Frage nach den Kriterien für die Bestimmung von »Trefflichkeit« – je nach Zeitumständen – unterschiedlich beantwortet. Gemeinsam war allen sozialsanitären Entwürfen nur die Bestimmung des Lebenswerts eines Menschen nach seinem gesellschaftlichen Nutzen. Derart utilitaristisches Denken beeinflusste auch immer sozialpolitische Praxis. Besonders in Krisenzeiten verschärften sich Tonfall und Haltung gegenüber angeblich »wertlosen« Mitgliedern der Gesellschaft, wobei traditionelle ethisch-moralische Bindungen einem Erosionsprozess unterlagen. Standen aber Menschenrechtsgedanke und das Gebot der Nächstenliebe erst einmal zur Disposition, wurde die Situation für Menschen am Rand der Gesellschaft bedrohlich.
Für den Umgang mit dem Anderen heute postuliert der Psychiater und Soziologe Klaus Dörner: »Der Umgang mit einem Langzeitpatienten besteht nicht mehr darin, ihn ändern zu wollen, sondern ihn so zu akzeptieren, wie er ist(…) Es geht darum, mit ihm gemeinsam die einzig zu ihm passende Landschaft, die ihm angemessene ökologische Nische zu suchen und zu gestalten. Zu ändern sind die Bedingungen, der Kontext, nicht der Mensch«. Dieses beinhaltet die Umkehrung der Stigmatisierung sowie die Abkehr vom Primat der Arbeitsfähigkeit als dem wesentlichen Merkmal der heute herrschenden Auffassung von Gesundheit.
Es werden unter anderem Texte von Charles Darwin, Virginia Woolf und Alfred Döblin gelesen.
Armin Trus, Lehrer an der Gesamtschule Hungen, hat sich seit seiner Tätigkeit als pädagogisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Gedenkstätte Hadamar immer wieder mit den Themen Eugenik und NS-»Euthanasie« befasst. Er wird einen Überblick über die Geschichte der Ausgrenzung von als »unnütz« oder »minderwertig« angesehenen Menschen geben. Im Vordergrund steht die Entwicklung hin zu den nationalsozialistischen Sterilisations- und »Euthanasie«-Verbrechen. Dabei werden diese Verbrechen nicht als das »ganz andere« begriffen, sondern gewissermaßen als Ernstfall der Normalität.
Rainer Kah, Soziologe mit Schwerpunkten historische Sozialforschung und medizinische Soziologie. Er ist Gründer der Soziologischen Praxis in Wetzlar und Vereinsvorsitzender des Vereins Soziale Inklusion e.V. In seinem Beitrag wird er auf die fatale Kontinuität der herrschenden Auffassung von Gesundheit eingehen.
Literaturhinweise:
Armin Trus: Der »Heilige Krieg« der Eugeniker, in: Freiling, Gerhard u. Günter Schärer-Pohlmann: Geschichte und Kritik. Beiträge zu Gesellschaft, Politik und Ideologie in Deutschland (= Festschrift für Heinrich Brinkmann zum 60. Geburtstag), Gießen 2002, S. 245-286. Der Artikel ist online einsehbar unter www.yumpu.com.
Rainer Kah: Was im Bermuda-Dreieck von Ökonomisierung, Effizienz und Hilfeplan verschwindet. In: Sozialpsychiatrische Informationen. Köln 4/2012
Weitere Infos: www.soziologische-praxis.de, www.soziale-inklusion.com