In welchen Begriffen reden wir über Flüchtlinge? Welche Bilder und Metaphern verwenden die Medien? Was sagt das über uns selber aus? Welche politisch-gesellschaftlichen Umstände begünstigen Integrationsbemühungen, welche behindern sie eher? Was droht uns, wenn Integration misslingt? »We are all waves of the same sea« Mark Tobey
Ostende - 1936
Den September verbringe ich im Süden der Niederlande und lebe in einem Wohnwagen auf der Halbinsel Walcheren. Nicht weit von hier, auf der anderen Seite der Schelde, haben sich Mitte der 1930er Jahre Flüchtlinge getroffen, die vor den Nationalsozialisten fliehen mussten. Joseph Roth, Stefan Zweig, Egon Erwin Kisch, Irmgard Keun, Ernst Toller und andere begegneten sich einen Sommer lang im belgischen Ostende. Volker Weidermann hat diesen Sommer in seinem Buch Sommer der Freundschaft zu schildern versucht. Dort erfährt man, dass Tollers Frau Christiane ihrem Mann stets einen Strick ganz oben in den Koffer packen musste, damit er jederzeit über eine »Exit-Strategie« verfügte, wie Wolfgang Herrndorf das später genannt hat. Am 22. Mai 1939 machte er Gebrauch von diesem Strick und erhängte sich in einem Zimmer des Hotels Mayflower in New York aus Verzweiflung über die in Spanien gescheiterten letzten revolutionären Hoffnungen und zermürbt von langer Schlaflosigkeit. Der Freund Klaus Mann notiert in sein Tagebuch: »Grosses Grauen; grosse Erschütterung. Erinnerungen; Vorwürfe; all das Versäumte – was nie wieder gutzumachen ist. – Das Grauenhafte für uns alle. Ich will es nicht tun. Es ist zu grauenvoll. Man muss aus allen menschlichen Bindungen treten, ehe man es tut.« Die Druckwellen der Erschütterung, die dieser Tod für die deutschen Intellektuellen und Schriftsteller im Exil darstellte, waren noch in Paris spürbar. Joseph Roth, der inzwischen dort lebte, brach, als er vom Tod Tollers erfuhr, zusammen und starb wenige Tage nach ihm in einem Armenspital.
Frühe Prägungen
Ältere Schichten der Seele geben merkwürdige Inhalte frei, sobald man verborgene Türen der Erinnerung öffnet. Das Wort Flüchtling hörte ich als Kind wohl zum ersten Mal, als davon die Rede war, dass es einem Familienmitglied gelungen war, aus russischer Gefangenschaft zu fliehen. Auf abenteuerlichen Wegen hatte sich G. nach Hause zu Frau und Kindern durchgeschlagen. Von Nachbarn hieß es, sie seien aus dem Sudetenland vertrieben worden und hätten »vor den Russen fliehen müssen«. Andere waren »ausgebombt« worden, ihnen war alles verbrannt. In meinem Inneren verbanden sich diese Erzählungen mit den Bildern aus dem Struwwelpeter, das das erste Buch war, mit dem ich in Berührung kam. Wenn von Bränden die Rede war, sah ich Paulinchen vor mir, die beim Zündeln verbrennt. Das ganze Mädchen steht in Flammen, am Ende bleibt von ihr nur ein Häufchen Asche zurück. Diese frühen Erinnerungen sitzen im Kinderkörper, steigen gelegentlich an unerwarteten Stellen auf und machen dem aufgeklärten Erwachsenenbewusstsein zu schaffen. Das Bild »vom Russen« ist für eine ganze Generation von Kriegs- und Nachkriegskindern durch derartige Erzählungen geprägt. Bestimmte heutige Nachrichten oder Bilder bohren längst verschüttete Schichten unseres Bewusstseins oder Unbewussten an, die sich dann als Verstärker und Verzerrer an die gegenwärtig gesehenen Bilder anschließen oder sich über sie schieben. Ich gehe an der Hand des Vaters durch die Stadt, der angesichts eines am Boden sitzenden Bettlers sagt: »Unsereinem ist auch nichts in den Schoß gefallen.« Die vielen Geschichten über »Zigeuner«, die an der B3 zwischen Kassel und Marburg lagerten: »Sie entführen gelegentlich kleine blonde Kinder, um ihr Blut aufzufrischen. Vorn an der Haustür liest einem eine Zigeunerin aus der Hand, während hinten die Bälger ins Haus einsteigen und den Schinken aus dem Rauch holen und das Tafelsilber stehlen.« Über Ablehnung und Sympathie entscheiden häufig solche lebensgeschichtlich frühen Erfahrungen. Der eine wirft einem Bettler etwas in den Hut, der andere verspürt den Impuls, ihm den Hut wegzutreten. In manchen existieren beide Regungen parallel und kämpfen miteinander. Es gibt einen Faschismus weit unterhalb des Kopfes, der sich unserer Affekte und Sinne bemächtigt hat. Wie durch ein Steigrohr kommt er plötzlich an die Oberfläche unseres erwachsenen Bewusstseins, wenn uns zum Beispiel ein bestimmter Geruch in die Nase steigt oder ein bestimmter Geschmack uralten Ekel auslöst. Im Unterbau der Seele gibt es diese archaischen Kindheitserinnerungen, und wer sie nicht spürt, dem ist nicht zu glauben.
Begrüßungsrituale
Seit Wochen sehe ich jeden Abend in der Tagesschau Polizisten, die, wenn sie Flüchtlinge in Empfang nehmen, Mundschutz und Gummihandschuhe tragen. Warum tun sie das? Man denkt unwillkürlich, dass die Fremden unter ansteckenden Krankheiten leiden, Pest und Cholera einschleppen. Man nähert sich ihnen wie Schmutz oder hochtoxischem Abfall. Was machen solche Fernsehbilder mit unserem Bewusstsein – und vor allem unserem Unbewussten? Und: Wie wirken Mundschutz und Gummihandschuhe auf die Ankömmlinge? Man berührt sie mit den spitzen Fingern des Ekels. Den Begleittext zu diesem Begrüßungsritual hörte ich im Fernsehen einen bayrischen Polizisten sprechen, der gerade eine syrische Flüchtlingsfamilie aus dem Auto eines ungarischen Schleusers herausgeholt hat: »Der Schleuser wird zur Bundespolizei verbracht, dort weiter bearbeitet und vernommen, dann auf Anordnung des Staatsanwalts einem Haftrichter vorgeführt und geht dann vermutlich in Untersuchungshaft. Die Flüchtlinge werden zur Bundespolizei transportiert, dort registriert und dann in eine Erstaufnahmeeinrichtung verbracht.« Unmenschlichkeit kündigt sich in der Sprache an. Wer in einer verdinglichten Sprache (»sind zu registrieren, sind zuzuführen, müssen verbracht werden«) über Menschen redet, behandelt sie irgendwann auch wie Dinge. Als Amos Oz im Jahr 2014 den ersten Siegfried Lenz-Preis erhielt, sagte er im Interview mit der Süddeutschen Zeitung: »Ich habe eine bestimmte Verantwortung für die Sprache. Wenn sie missbraucht wird, ist es meine Pflicht loszubrüllen. Ich reagiere wie ein Rauchmelder. Wenn Menschen als ‚unerwünschte Ausländer‘ bezeichnet werden oder als ‚Parasiten‘, muss ich Alarm schlagen. Denn eine enthumanisierte Sprache ist das erste Indiz für eine enthumanisierte Gesellschaft.« Victor Klemperer hat dem Nachweis dieses Zusammenhangs sein Lebenswerk gewidmet.
Fluten, Wellen, Ströme
Apropos Sprache: Wenn von den Flüchtlingen geredet wird, ist von Flüchtlingsströmen und einer Asylantenschwemme die Rede, von Wellen, Ansturm, Flut. Diese Begriffe legen nahe, dass wir uns dagegen schützen, zur Wehr setzen, Dämme errichten müssen, sonst gehen wir unter, werden wir überschwemmt. Lloyd deMause und Klaus Theweleit haben gezeigt, dass die Verwendung von bestimmten Metaphern wenig über die solcherart Bezeichneten, aber viel über die Körpergeheimnisse, unbewussten Phantasien, Wünsche und Ängste derer aussagen, die sie verwenden. Die visuellen Botschaften der Leit-Medien repräsentieren laut deMause die kollektive nationale Traumarbeit. Sie wirken durch Titelbilder, Karikaturen, Schlagzeilen und filmische Darstellungen mit am Aufbau von »Gruppenphantasien«, die die Art und Weise prägen, wie Wirklichkeit wahrgenommen wird. Wer oder was droht da überflutet, überschwemmt zu werden? Wogegen werden Grenzzäune, Dämme und Barrieren errichtet? Klaus Theweleit hat aus den schriftlichen Hinterlassenschaften der Freikorpsmänner der frühen 1920er Jahre ein Psychogramm des Faschisten und des Faschismus herausgelesen. Fast alles, was Theweleit dort gefunden und in seinem zweibändigen Buch »Männerphantasien« beschrieben hat, finden wir nun auch bei den zeitgenössischen Rassisten und Ausländerfeinden wieder. Aber eben nicht nur bei diesen, sondern auch in den Bildern und Metaphern, die in der medialen Berichterstattung über die Völkerwanderung der Armen verwendet werden. Die Dämme und Begrenzungen, die eingeführt werden, um die Ausländerflut zu stoppen, werden auch gegen das eigene Unbewusste errichtet. Die Bedrohung, die man im anderen zu sehen glaubt, ist ursprünglich im eigenen Inneren zu finden. Der gefürchtete Fremde ist die Verkörperung dessen, was wir auf dem Weg ins Erwachsenenalter verdrängen mussten und das uns in der Folge fremd geworden ist. Die Begegnung mit ihm löst Angst aus und es muss durch allerhand Abwehrmaßnahmen in Schach gehalten werden. Freud sprach im Anschluss an Jean Paul vom Unbewussten als dem »wahren inneren Afrika«, das wir in uns tragen und in dem das Ich seine Kolonien errichtet. Die Fremden, die nun zu uns kommen, sind also auch Sendboten jenes dunklen Kontinents, den wir in uns tragen. »Äußeres weist innen auf Verschüttetes«, hat der Schweizer Schriftsteller Reto Hänny einmal geschrieben, und diese Verzahnung von Innerem und Äußeren ist es, die den vermeintlichen Abwehrkampf gegen die Flüchtlinge psychisch antreibt. Um das Verschüttete unter der Schwelle des Bewusstseins zu halten, geht man gegen das Äußere vor, das es symbolisiert.
»Freude aus Verunsicherung ziehen«
Die Vehemenz der Abwehrreaktion hängt ab vom Ausmaß der Verdrängung, die ein Mensch leisten muss. Wer das Glück hatte, nicht autoritär erzogen und »zur Sau gemacht« worden zu sein, der wird die Zuwanderung gelassen sehen und die mit ihr verbundenen Schwierigkeiten nüchtern analysieren können. Vielleicht wird er es sogar gelernt haben, »Freude aus Verunsicherung zu ziehen« und kann die Zuwanderung als kulturelle und soziale Bereicherung erleben. Christa Wolf hatte die Formulierung »Freude aus Verunsicherung zu ziehen« in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung gebraucht und mit der skeptischen Frage verbunden: »Wer hat uns das je beigebracht?« Je traditioneller ein Mensch geprägt ist, je mehr man ihn in einen Charakterpanzer gezwängt hat, desto schwerer wird er sich damit tun, angesichts von Neuem und Unbekanntem Freude zu empfinden. Seit die sogenannte »Willkommenskultur« hegemonial geworden ist, sogar Angela Merkel sich die Parole »Wir schaffen das!« zu eigen gemacht und BILD die Aktion »Flüchtlinge willkommen« gestartet hat, fühlen sich die Ausländerfeinde nicht mehr so von oben ermuntert, wie sie es bislang gewohnt waren. Von den neuen Flüchtlingsfreunden wird zur Begründung auf den ökonomischen Nutzen verwiesen, den die Bundesrepublik aus der Zuwanderung ziehen kann. Die Flüchtlinge sind überwiegend jung und füllen die Alterspyramide im unteren Bereich auf. Die Wirtschaft klagt über einen »Fachkräftemangel« und Hunderttausende unbesetzter Arbeitsplätze. Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn möchte die Gunst der Stunde nutzen und sich einen lang gehegten Wunsch erfüllen und den Mindestlohn senken. In einem Beitrag für die Wirtschaftswoche schreibt er: »Um die neuen Arbeitskräfte in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren, wird man den gesetzlichen Mindestlohn senken müssen, denn mehr Beschäftigung für gering Qualifizierte gibt es unter sonst gleichen Bedingungen nur zu niedrigerem Lohn.« Bestimmte Kapitalfraktionen sehen in den Flüchtlingen Nachschub für den »Arbeiterstrich«, auf dem man sich je nach konjunktureller Lage kurzfristig mit billigen Arbeitskräften eindecken kann. Die Flüchtlinge dienen als Reservearmee und Druckmittel gegen Lohnforderungen. Massive Zusatzkosten für die Bewältigung der Flüchtlingskrise werden schon bald von der Politik als Grund genannt werden, warum für andere Belange kein Geld mehr da ist. »Dann wird es heißen, für Kita-Erzieherinnen, Schwimmbäder, Theater und Schulen ist kein Geld da, weil die Flüchtlinge ja so teuer sind. Und man muss nur eins und eins zusammenzählen, um sich auszumalen, wie dies von der momentan noch sehr solidarischen Öffentlichkeit aufgenommen werden dürfte«, schrieb Jens Berger am 14. September auf den Nachdenkseiten. Wie auch immer der Umschwung in der Haltung den Flüchtlingen gegenüber motiviert sein mag, er kann eine nicht zu unterschätzende, gewaltmindernde Wirkung haben. Denn je autoritärer jemand strukturiert ist, desto wichtiger ist es für ihn, sich in seinem Denken und Handeln im Einklang mit der Obrigkeit zu befinden. Die Hegemonie der Ausländerfreunde hat allerdings auch zur Folge, dass ausländerfeindliche und rassistische Positionen sich in den Untergrund des Stammtischgeredes und privaten Meinens zurückziehen. Dort entwickelt sich ein Schwarzmarkt grummelnder Ressentiments. In Gießen hörte ich neulich auf dem Wochenmarkt einen Metzger in breitestem Hessisch zu einem seiner Kunden sagen: »Secht mer mal ebbes, wird mer gleich in die Eck gestellt. Vor einem Lotto-Geschäft in der Fußgängerzone sah ich zwei Männer stehen, so um die sechzig Jahre alt. Die Hände hielten sie auf dem Rücken verschränkt, die Hemden spannten über den Bäuchen. Als eine Gruppe junger Migranten vorüberging, sagte der eine: »Es werden immer mehr von denen.« Der andere stimmte zu: »Es sind jetzt schon viel zu viele ins Land gekommen und es kommen täglich mehr.« »Ich hab gehört, die Filiale eines Discounters muss schließen, weil die den Laden leerklauen«, sagte der Erste. »Wir brauchen einen kleinen Adolf«, schlussfolgerte der Zweite. Der Erste stimmte ihm zu und ergänzt: »Zu klein darf er aber auch nicht sein. Er muss schon durchgreifen und den Saustall ausmisten.« Wenn es nicht gelingt, diese Ressentiments zu korrigieren und in eine aufklärerische Richtung zu bringen, könnte sich der Schwarzmarkt zu einer echten Bedrohung der Demokratie auswachsen. Es muss nur ein Charismatiker auftauchen, der den grassierenden Privatwahn verallgemeinert und zum politischen Programm erhebt. Das hatten wir schon einmal.
Migration und Solidarität
Bindungen als libidinöser Kitt der Gesellschaft und Antidot gegen Gewalt Gewalt und Religion bestimmten die Formen der Integration in der feudalen Welt; die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften setzen auf Geld, Markt (auch als Arbeitsmarkt) und Konsum als Modi der Integration; eine wahrhaft demokratische Gesellschaft würde stattdessen auf emotionale Bindungen, Solidarität und Empathie als Kräfte des gesellschaftlichen Zusammenhalts setzen. In Beziehung sein und bleiben, das ist das einzig wirksame Antidot gegen Gewalt und Zerstörung. Bindung bedeutet auch libidinöse Besetzung – von Menschen und Objekten. Das, wovon ich ein Teil bin und an das mich libidinös gebunden fühle, kann ich nicht schädigen oder gar zerstören wollen. Nun gehören emotionale Bindungen (wie Liebe und Zuneigung) zu jenen Qualitäten, die man nicht staatlicherseits verordnen kann. Eine Gesellschaft verfügt über sie und begünstigt ihre Ausbildung – Politiker wie Brandt und Palme zum Beispiel setzten auf menschliches Entgegenkommen und Solidarität – oder aber sie arbeitet an ihrer Zerstörung und sägt damit langfristig einen der Äste ab, auf denen sie selber sitzt. Für die Entwicklung spezifisch menschlicher Qualitäten wie Mitgefühl, wechselseitige Verantwortung und gegenseitige Hilfe ist es nicht unwichtig, in welcher gesellschaftlichen Umgebung man lebt. Ein funktionierender Sozialstaat begünstigt ihre Herausbildung, der von der Leine gelassene Markt ruiniert sie eher und entfesselt Mentalitäten und Haltungen der Feindseligkeit und Konkurrenz. Oskar Negt schreibt in seinem Buch Philosophie des aufrechten Gangs: »Zum ersten Mal in der Geschichte sind die wirtschaftlichen Mächte damit beschäftigt, in einer totalisierenden Warenproduktion Bindungen bewusst zu zerstören.« Zur gegenwärtigen Gesellschaft gehört der Imperativ, flexibel zu sein, was letztlich nichts anderes heißt, als ohne Bindungen zu existieren, weil Bindungen Flexibilität und Mobilität behindern. Bindungslosigkeit droht zum allgemeinen Zustand zu werden, der libidinöse Kitt beginnt zu bröckeln. Diese Gesellschaft organisiert das Leben ihrer Mitglieder nur noch als sinn- und ziellosen individualistischen Konkurrenzkampf aller gegen alle. Jeder hat Angst, auf der Strecke zu bleiben, absolviert unbezahlte Praktika, arbeitet, sofern er einen Arbeitsplatz hat, bis tief in die Nacht, identifiziert sich mit seiner Firma, die ihn bei nächster Gelegenheit feuern wird. Nach Feierabend »gönnt man sich etwas«, kauft Klamotten, wirft irgendwelche Drogen ein, die die Stimmung aufhellen, surft stundenlang durchs Internet oder treibt Sport, um sich selbst zu optimieren und das Altern zu verhindern. Die berühmte und viel beschworene »westliche Wertegemeinschaft« besteht bei Lichte besehen aus einem Zugleich von Traditionsverlust, Entwurzelung und konsumistischem Nihilismus. Die Flüchtlinge sollen sich, so wird immer wieder gefordert, an unsere Kultur und Werte anpassen. Dabei tun wir so, als läsen unsere Mitbürger massenweise die Buddenbrooks, hörten Bach-Fugen und betrachteten Bilder von Max Beckmann. Die Wirklichkeit besteht aus läppischen Whatsapp-Nachrichten, Oettinger-Bier, Marlboro Light, RTL 2 und Bild-Zeitung – wenn es dazu überhaupt noch reicht. Alles, was geblieben ist, ist eine wahrheitsvergessene, inhaltsleere Konsumkultur.
Gerade bei der Integration der Migranten müsste man aber auf die Entwicklung emotionaler Bindungen setzen. Bindungen bezeichnen Gefühle und Überzeugungen, die dafür sorgen, dass ein Mensch in seinem Verhalten und Erleben andere Menschen und deren Gefühle berücksichtigt. Ohne Bindungen in diesem Sinn werden die Migranten fremd bleiben und Demokratie und Rechtsstaat werden für sie lediglich abstrakte Begriffe sein. »Innerhalb einer stark integrierten Gesellschaft sind die Hauptzwecke allen gemeinsam, und das Ziel, das andere sich setzen, wird für jeden zur Forderung«, hat Sartre einmal geschrieben. Die Masse der jungen Männer, die nun zu uns kommen, könnten sich unter diesen Bedingungen zu einer zeitgenössischen Form dessen entwickeln, was man früher »gefährliche Klassen« genannt hat. Viele von ihnen sind entwurzelte junge Männer zwischen Pubertät und Eheschließungsalter, für die keine verbindlichen oder wirksamen Regeln und Schranken des Verhaltens bestehen, die sich nichts und niemandem verpflichtet fühlen. Weder Arbeit – sie haben meist keine – noch stabile Liebesbeziehungen, die dem schweifenden Trieb Dauer und Form verleihen, indem sie ihn an ein Objekt fest binden, verorten sie in der Gesellschaft und halten sie von Regelverletzungen zurück. Man hat ihre Köpfe via Fernsehen und Internet mit Bildern einer Welt des Luxus und der Mühelosigkeit versorgt, zu der man ihnen gleichzeitig den Zutritt verwehrt. Man hat in ihnen Wünsche geweckt, deren Erfüllung sie zu Mitgliedern dieser Gesellschaft machen könnte, gleichzeitig fehlen ihnen aber die Mittel dazu, sie sich auf gesellschaftlich lizenzierte Weise erfüllen zu können. So leben sie in einem Zustand permanenter Frustration und fürchten, mangels vorzeigbarer Statussymbole und demonstrativen Konsums aus der Gemeinschaft der Gleichaltrigen und der durch sie repräsentierten Gesellschaft herauszufallen oder gar nicht erst in sie hineinzukommen. Die Versuchung ist groß, sich die begehrten Dinge auf anderen, nicht legalen Wegen zu besorgen. Wenn jetzt an den notwendigen emotionalen und finanziellen Mitteln gespart wird, um die kriminalitäts- und brutalitätsgefährdeten jungen Männer zu integrieren, werden wir später viel Geld für Polizei und Gefängnisse ausgeben müssen. Unter Bedingungen einer fortschreitenden gesellschaftlichen und politischen Desintegration und eines rapiden Schwundes emotionaler Bindekräfte werden wir jedenfalls mit einem Rückgang der Zivilisation und einem Anwachsen der Barbarei rechnen müssen.
Eine einbeinige Möwe
Am Strand landete neben mir eine Möwe, die auf einem Bein zum Stehen kam. Das andere war offenbar verletzt und sie trug es angewinkelt am Körper Wenn der Wind sie aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte, stütze sie sich auf der Seite des verletzten Beins mit einem Flügel im Sand ab. Ich warf ihr Apfelstücke zu, die sie vorsichtig hüpfend erreichte und gierig verschlang. Als die Apfelstücke verzehrt waren, flog sie davon, kam aber im Laufe der nächsten Stunden immer mal wieder zurück, um nachzuschauen, ob es etwas Essbares gäbe. Sie wurde immer zutraulicher und kam ziemlich dicht an mich heran. Irgendwann verschwand sie. Wo wird sie Ruhe finden – auf nur einem Bein?
Im Verlag Brandes & Apsel ist Anfang 2015 Götz Eisenbergs Buch »Zwischen Amok und Alzheimer. Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus« erschienen. Siehe dazu die Rezension von Joke Frerichs auf den NachDenkSeiten http://www.nachdenkseiten.de/?p=25005.