»Es herrscht Totenstille [...], dort, wo früher von weitem Gemurmel oder undeutliche Geräusche zu vernehmen waren, die entspannend wirkten und fröhlich stimmten, [...] steigt nun kein Rauch mehr aus den Schornsteinen über den Dächern der Häuser auf, die verlassen wirken; [...] alles ist verschlossen und verboten.«
»Nach und nach wurden alle öffentlichen Orte geschlossen; die Cafés und Klubs waren wie ausgestorben, überall herrschte Grabesstille.«
Zwei Berichte von Zeitgenossen aus derselben Stadt, aber zu unterschiedlichen Zeiten. Die Stadt ist Marseille – 1720 tobte dort die Pest, 1832 dann die Cholera.
Auch für die von der Corona-Krise geprägte Jetztzeit ließe sich problemlos ein ähnliches Szenario entwerfen, unabhängig davon, welche Stadt man in den Blick nimmt: Trotz allen Fortschritts scheinen die Menschen auf den Ausbruch von Seuchen ähnlich zu reagieren. Öffentliche Plätze werden geschlossen, soziale Kontakte werden gemieden, Stille und Leere kehren ein – die Welt um uns herum ist in einem Wandel begriffen, wie die wenigsten von uns es jemals für möglich gehalten hätten. Allerorten bekommt man zu hören: Die Welt nach Corona wird nicht mehr so sein, wie sie vorher war. Dabei kann derzeit keiner sagen, wann diese Post-Corona-Zeit anbricht. Schon wird von ersten Lockerungen in einigen deutschen Nachbarländern gesprochen. Dänemark will die Grundschulen wieder öffnen, Tschechien die Baumärkte. Wie in Deutschland die Exit-Strategie aussehen wird, steht dahin. Vermutlich wird man in der Woche nach Ostern erste Ansätze erkennen können. Sie werden offenbaren, welcher Wandel sich bei den Funktionssystemen in unserer Gesellschaft ergeben hat.
Sieht man einmal von einigen Unverbesserlichen ab, so erstaunt doch, wie flächendeckend der Konsens geteilt wird, dass unter den gegebenen Umständen der Gesundheit Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen zukommt. Allgemein wird im Namen der »public health« und der Solidarität mit den sogenannten Risikogruppen die Einschränkung fundamentaler Grundrechte hingenommen. Das Gebot der Stunde lautet »flatten the curve!« Damit die im Gesundheitssystem Tätigen alle mit Corona Infizierten bestmöglich behandeln können, wird vieles getan, um die Übertragungsmöglichkeiten des Virus und damit die Zahl der Erkrankten wirksam zu begrenzen. Der Ernstfall, den es zu verhindern gilt, wäre die Triage, eine Sortierung der medizinisch zu behandelnden Menschen nach ihren Überlebenschancen. Allerdings werden bereits Überlegungen hierzu angestellt, die die Fragilität des erwähnten Konsenses anzeigen. Alte und Menschen mit Behinderungen werden möglicherweise die Verlierer sein, wenn die Beatmungsgeräte in den Krankenhäusern rar werden. Um eine solche Situation zu verhindern, dürfte das Abflachen der Kurve nicht ausreichen; geboten wäre ein wesentlich energischer betriebener Ausbau des Gesundheitssektors, und sei es, dass – wie in China geschehen – Großraumkrankenhäuser mit den notwendigen Beatmungsgeräten entstehen.
In mancherlei Hinsicht sind die Alten und Pflegebedürftigen unserer Gesellschaft bereits Verlierer. Nicht nur sind die Sterberaten in den Pflege – und Seniorenheimen deutlich höher als sonstwo, ihre Bewohner sind auch von der verordneten Kontaktsperre am einschneidendsten betroffen. Dem Gefühl der Einsamkeit kann durch fröhliches Herumchatten doch nur sehr bedingt begegnet werden.
Eine ähnliche gesellschaftliche Herausforderung ist der Umgang mit denjenigen, die der Aufforderung, zu Hause zu bleiben, nicht nachkommen können: die Obdachlosen. Auch hier könnten mehr Orte der Zuflucht und der Versorgung geschaffen werden. Ein anderes Problem sind die, die zu Hause bleiben könnten, von denen man aber Präsenz an systemrelevanten Orten erwartet: Verkäufer*innen, medizinisch-technisches Personal, Pflegekräfte, Handwerker*innen u. a. Es ist zu hoffen, dass ihre gegenwärtig durch Politik und Medien bekundete Wertschätzung sich nicht in Einmalzahlungen erschöpft, sondern sich auch nach der Krise in den Lohntüten bemerkbar macht.
Eine Folge der Großen Pest des Mittelalters war eine riesige Umverteilung der privaten Vermögen. Es wird interessant sein zu beobachten, wie sich im Funktionssystem Wirtschaft die Krise auswirkt. Werden meine Krankengymnastik-Praxis, meine Friseur-Solounternehmerin und mein Lieblingsbiergarten – um nur einige für mein persönliches System relevanten Anbieter*innen zu nennen – noch existieren, wenn das Schwerste überstanden ist? »Es wird Strukturbrüche geben, aber wir wissen nicht welche«, lautet der Satz, den der Bonner Soziologe Rudolf Stichweh ans Ende seines FAZ-Artikels (7.4.20) über die »Simplifikation des Sozialen« gestellt hat. Auch wir vom Georg-Büchner-Club wissen das nicht, wir werden aber auf jeden Fall nach der Krise noch da sein und die Entwicklungen, wie sie auch immer ausfallen mögen, im Auge behalten und kritisch begleiten.
Vorläufig müssen wir die Wissensdurstigen und Kulturbeflissenen – und das wird nun den einen oder die andere überraschen – auf die sozialen Netzwerke verweisen und ein Loblied auf die Möglichkeiten anstimmen, die uns eben auch die Digitalisierung eröffnet. Wie wäre es beispielsweise mit einem Museumsbesuch online oder einem Ballettabend zur Mittagszeit (bis Samstag, dem 11. April kann man noch kostenlos Verdis »Messa da Requiem« als Ballettaufführung des Opernhauses Zürich sehen)? Der Angebote sind viele. (Siehe auch das Corona-Tagebuch von Götz Eisenberg)
Das Schlusswort hat die britische Königin: »We will meet again!«
Armin Trus