Flüchtlingsgespräche

»Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist. Während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.« (Bertold Brecht, Flüchtlingsgespräche)

Samstag, 12. Dezember 2015 - 14:00 bis 17:00

DER GROSSE: »Das Bier ist kein Bier, was dadurch ausgeglichen wird, dass die Zigarren keine Zigarren sind, aber der Pass muss ein Pass sein, damit sie einen in das Land hereinlassen.«

DER UNTERSETZTE: »Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist. Während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.«

So beginnen die Flüchtlingsgespräche von Bertolt Brecht. Kalle, der Arbeiter, und Ziffel, der Intellektuelle, sind beide vor dem Faschismus aus Deutschland geflüchtet. Sie begegnen sich im Exil zufällig in einer Bahnhofskneipe und fangen ein Gespräch an. Sie merken, dass sie sich in vielem einig sind und es entsteht so etwas wie eine Freundschaft; die beiden treffen sich immer wieder, um miteinander zu reden und Bier zu trinken.

Joseph Roth, Stefan Zweig, Egon Erwin Kisch, Irmgard Keun, Ernst Toller und andere, die vor den Nationalsozialisten fliehen mussten, begegneten sich Mitte der 1930er Jahre einen Sommer lang im belgischen Ostende. Tollers Frau Christiane musste ihrem Mann stets einen Strick ganz oben in den Koffer packen, damit er jederzeit über eine »Exit-Strategie« verfügte, wie Wolfgang Herrndorf das später genannt hat.

Am 22. Mai 1939 machte Toller Gebrauch von diesem Strick und erhängte sich in einem Zimmer des Hotels Mayflower in New York aus Verzweiflung über die in Spanien gescheiterten letzten revolutionären Hoffnungen und zermürbt von langer Schlaflosigkeit. Der Freund Klaus Mann notiert in sein Tagebuch:

»Grosses Grauen; grosse Erschütterung. Erinnerungen; Vorwürfe; all das Versäumte – was nie wieder gutzumachen ist. Das Grauenhafte für uns alle. Ich will es nicht tun. Es ist zu grauenvoll. Man muss aus allen menschlichen Bindungen treten, ehe man es tut.«

Im Spätsommer 2015 hat das Thema Flüchtlinge für uns eine ungeahnte Aktualität und Dringlichkeit erfahren. Bei den letzten Treffen des Georg-Büchner-Clubs zeigte sich, dass unter den Mitgliedern ein großer Redebedarf über dieses Thema besteht. Wir haben lange überlegt, in welcher Form der auf dieses Thema eingehen soll. Schließlich sind wir übereingekommen, den Nachmittag möglichst offen zu gestalten und Zeit und Raum zum gemeinsamen Gespräch und Gedankenaustausch zu schaffen.

Einige Club-Mitglieder verfügen aus ihren jeweiligen Arbeitsfeldern (z. B. Jobcenter, Universität, Politik in Stadt und Landkreis Gießen) über praktische Erfahrungen und sind bereit, darüber zu berichten. Zwischendurch werden wir ein paar Literarische Texte lesen, um das Thema auch in andere Richtungen zu öffnen.